Hridaya ist, wo links mit rechts verschmilzt, oben mit unten, vorne mit hinten, einatmen mit ausatmen, außen mit innen, weiblich mit männlich und Stärke mit Empfänglichkeit. Es ist dort, wo der Himmel auf die Erde trifft, die Quelle sichtbar wird und der Geist Gestalt annimmt. Es hat einen eigenen Ort, an dem alle Gegensätze entstehen und wiederkehren, es ist die Quelle von Körper und Geist und kann nur in und als die vom Leben im natürlichen Zustand des Körpers bereits gegebene Verbundenheit erfahren werden.
Dieses Sutra ist ein Faden, der die Betrachtungen des Herzens miteinander verwebt. Er ist in der traditionellen Weise geschrieben, in Form von kurzen, präzisen Aussagen, welche die Lehre zusammenfassen. Sutras werden in der Großen Tradition seit jeher von Lehrern als Lehrbücher verwendet, um Schüler zu einer angemessenen Praxis und einem angemessenen Verständnis des Herzens zu führen. Das Hridayayogasutra kann auf diese traditionelle Weise verwendet werden.
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Unabhängig davon, ob man religiös erzogen und gläubig ist oder nicht: Die Annahme, dass die Wahrheit erst gesucht und gefunden werden müsse, ist kulturell tief verwurzelt.
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Kulturelle Strukturen werden über Generationen hinweg ungeprüft weitergegeben und nicht hinterfragt. So wurde die Doktrin, nach „höheren Sphären“, d. h. nach Gott oder Erleuchtung erst streben zu müssen, durch alle Gesellschaften hinweg verbreitet und als Instrument für politische Macht benutzt. Sie verleugnen das Wunder und die Kraft der gegenwärtigen Realität, insbesondere wie sich diese als männlich-weibliche Wechselbeziehung zeigt.
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So, wie das Verhalten des Suchens den Menschen seiner ihm von Natur aus gegebenen Kraft und Intuition beraubt, verneint das kulturell erdachte Modell des perfekten, erleuchteten Menschen eben diese Einheit und Perfektion, welche das Leben an sich bereits ist und die jedem Menschen innewohnt. Der Körper und jedwede Erfahrung IST bereits der absolute Zustand, während das „Absolute“, welches die Kultur vorschlägt, nur eine Hypothese ist, die die Aufmerksamkeit von der Realität ablenkt. Die Vorstellung des Menschen von Himmel hat aus diesem üppigen Paradies eine Hölle gemacht.
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Erst mit diesem Verständnis kann der Menschen den unreflektierten Druck einer kulturell verordneten Suche loslassen und sich stattdessen in den natürlichen Zustand und in das Wunder des bereits gegebenen Lebens hinein entspannen. Authentisches Yoga beginnt als ein Mittel des Lebens, eben dieses natürliche Leben wiederherzustellen. Dies geschieht, wenn sich der Verstand von den Gewohnheiten der Suche nach dem, was wir nicht sind, löst. Diese Suche ist es, die das Leben verleugnet.
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Die Intelligenz und Kraft des Lebens erscheint in Form von polaren Gegensätzen in Einheit. Durch die natürliche Teilhabe an der Wechselbeziehung aller Gegensätze lösen sich jegliche Überreste der vom Geist angenommenen Trennung von der Realität auf. Der Geist wird klar, wenn er sich mit dem ganzen Körper, der reine Intelligenz ist, verbindet. Auf diese Weise wird der Verstand über die angeborene Intelligenz des Lebens informiert und als Kommunikationsmittel des Lebens hilfreich. In diesem natürlichen Zustand sind die männlichen und weiblichen Eigenschaften innerlich und äußerlich deutlich als verschieden voneinander wahrnehmbar und werden in ekstatischer und kontinuierlicher Vereinigung als der grundlegende Prozess des Lebens erfahren, der in jedem Individuum einzigartig zum Ausdruck kommt.
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Alte Weisheitskulturen haben diese Polaritäten erkannt und sie in Konzepten wie Yin-Yang oder Shiva-Shakti ausgedrückt. Ohne die praktischen Möglichkeiten des Yoga, diese Polaritäten als die tatsächlichen Bedingungen des eigenen Lebens zu erfahren, führt die Rede darüber jedoch dazu, Abstraktionen und eine Suche nach ihrer Verwirklichung zu schaffen, gerade so als wären sie nicht bereits vorhanden.
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Die Sensibilität für die Polaritäten des Körpers, d. h. von links nach rechts, von vorne nach hinten und vor allem von oben nach unten, koordiniert mit der Bewegung des Atems, entwickelt die Sensibilität für die grundlegende Polarität zwischen Stärke und Empfänglichkeit, die weiblich-männliche Vereinigung des Lebens. Aufgrund der Einschränkungen, welche die Gesellschaft der männlich-weiblichen Wechselbeziehung auferlegt hat, entwickelt sich die echte Polarität zwischen Mann und Frau (oder in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung) häufig nicht ohne die Förderung der Sensibilität für eben diese Polaritäten. Die Entwicklung der Wechselwirkung innerhalb des Systems entwickelt die Wechselwirkung außerhalb und umgekehrt: Das eine ist ein Katalysator für das andere. So wird Intimität mit sich selbst und anderen wiederhergestellt.
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Die rechte Seite, der Beckenboden und der Rücken des Körpers tragen das männliche Prinzip in sich; die linke Seite, die Kopfkrone und die Vorderseite des Körpers, das weibliche Prinzip. Die Ausatmung drückt die männliche Kraft als Stärke und die Einatmung die weibliche Kraft als Empfänglichkeit aus. Stärke und Empfänglichkeit in dieser Verschmelzung von Geben und Empfangen wird der natürliche Zustand des Lebens wiederhergestellt. Wenn wir in der Einheit mit den systemeigenen Gegensätzen praktizieren, befruchten sich die Prinzipien gegenseitig. Asana, Pranayama, Meditation und das Leben selbst werden zu einem nahtlosen Prozess, in dem die natürlichen Polaritäten gewürdigt und verinnerlicht werden. Die Intelligenz der männlich-weiblichen Wechselwirkung ist in jeder Zelle präsent und findet sich in der natürlichen sozialen Weisheit eines freien Lebens wieder.
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Die Einheit des Lebens findet sich in der Fähigkeit des männlichen Prinzips, das weibliche Prinzip empfangen zu können. Ein ganz einfacher Ausdruck dieser Einheit ist die Fähigkeit, mit der Kraft des ganzen Körpers eine Einatmung in der Yoga Asana zu empfangen. Stärke (männlich) muss empfangen (weiblich) und gleichzeitig empfangen werden. Dies ist die Form allen Lebens. Die Kraft liegt im Beckenboden und der Wirbelsäule und wird von oben durch die Kopfkrone und die Vorderseite empfangen. Die Ausatmung dient der Stärke und die Einatmung der Empfänglichkeit. Dies wird seit jeher bezeichnet als Hatha Yoga: ha = Sonne oder männlich und tha = Mond oder weiblich in vollkommener Einheit. Durch Hatha Yoga wird das Herz (hridaya) wahr-genommen; in dem Geben und Empfangen in vollkommener Einheit stattfinden: hr = erhalten/nehmen und da = geben. Das Weibliche stärkt das Männliche und umgekehrt. Dies offenbart uns die Gegensätze von Himmel und Erde als EINS. Die Quelle und die wahrnehmbaren Realitäten sind ein und dieselbe Realität und der Urgrund, aus dem sich Geist erhebt. Dessen höchster Ausdruck ist die Bereitschaft, einen anderen zu empfangen, wie sie in der Mutter und all ihren Nachkommen verkörpert wird, in der nährenden Kraft, die das Leben ist.
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Die Wiederherstellung der natürlichen Polaritäten in Körper, Atem und Beziehungen (in dieser Reihenfolge) ermöglicht Heilung auf allen Ebenen. Wenn Yoga individuell richtig angewendet wird, dient es der Entwicklung von inniger Beziehung, was wiederum die bedeutendste Kraft in der Heilung ist. Bei der Entwicklung einer persönlichen Yoga-Praxis gilt es den Körpertyp, das Alte, den Gesundheitszustand und den kulturellen Hintergrund der betreffenden Person zu berücksichtigen. Mit der Hilfe eines Lehrers können diese Feinheiten der individuellen Anpassung erlernt und angewendet werden.
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Menschliche Zufriedenheit, Wohlbefinden, Weisheit und Erkenntnis liegen in der Kraft der Wechselwirkung von polaren Gegensätzen: männlich und weiblich, ob in gleich- oder gegengeschlechtlicher Intimität. Alle Menschen verkörpern die gleiche männlich-weibliche Einheit als Substanz der Realität, da alle von Mutter und Vater abstammen. Die Kraft dieser Wechselseitigkeit liegt in der Anerkennung der Tatsache und der Teilhabe daran, dass der eine Pol nicht ohne den anderen existieren kann. Dies ist die Verwirklichung des Herzens oder des Ganzen. Die Intimität mit allen gewöhnlichen Gegebenheiten, allen Polaritäten, wird zur spirituellen Priorität. Bei dem Schmerz, der im Zusammenhang mit sexuellen Beziehungen empfunden wird, ist dies eine bittere Pille. Insbesondere inmitten des vorherrschenden lehrmäßigen und gesellschaftlichen Einflusses, der suggeriert, dass die Weisheit in der Überwindung von Sex liegt. Dennoch ist es eine Herausforderung, die wir bewältigen können. Negative persönliche und soziale Eigenschaften werden mit der Zeit durch positive Muster ersetzt, was die natürliche Reaktion auf Intimität ist. Die Freiheit der gegensätzlichen Vereinigung mit unseren tatsächlichen Realitäten (von links nach rechts, von oben nach unten, von vorne nach hinten, von weiblich zu männlich, von außen nach innen) ist natürlich, bereits etabliert und liegt im menschlichen Erfahrungspotenzial. Während der religiöse Vorschlag der Überwindung dies nicht ist. Das Teilhaben an der Vereinigung von Gegensätzen offenbart die Quelle aller Gegensätze.
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Die subtilen Energien, die von spirituellen Praktizierenden im vertikalen oder aufsteigenden Feld des Körpers geschätzt werden, werden durch die horizontale Verbundenheit erweckt und nutzbar gemacht, im Leben als Leben. Ohne die horizontale Verbundenheit wird das Bewusstsein in der Vertikalen minimiert und die Fixierung der Aufmerksamkeit auf die subtilen Energien ist ein gefährlicher und häufiger Fehler. Eine solide Verbundenheit im Leben öffnet das freie Bewusstsein für die Energie im und über dem Kronenchakra.
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Der absolute Mittelpunkt des Lebens und des yogischen Bewusstseins im Körper ist das Herz, nicht der Kopf. Das Herz offenbart sich durch Teilhabe an den inhärenten Wechselbeziehungen des Lebens, zwischen Einatmung und Ausatmung, Stärke und Empfänglichkeit, oben zu unten und innen zu außen. Das hridaya oder Herz ist die erste Zelle des Lebens und entsteht aus der Vereinigung von Mann und Frau. Es ist das Portal, durch welches die Quelle der Wahrheit, die absolute Kraft des Kosmos, als reine Intelligenz, Schönheit und Funktionalität erscheint. Aus dem Herzen strömen die nährenden Kräfte des Lebens, die den ganzen Körper formen und sich spiralförmig wie Blütenblätter in voller Blüte durch den Körper ziehen. Dies ist spürbar, wenn der ganze Körper in sich selbst und mit allem was ist, im Einklang ist. Das ist Liebesglück. Im natürlichen Zustand ist der Körper ausschließlich für Beziehung gemacht, wodurch Verbundenheit einfach geschieht. Diese Teilhabe ist Yoga. Es gibt nur das Herz – die Realität selbst, die als alles erscheint, einschließlich der scheinbaren Begrenzungen. Die früheren Gewohnheiten des Geistes, nach der Realität zu suchen, können bewusst abgelegt werden oder sich auf natürliche Weise auflösen, wenn sie als unnötig erkannt werden.
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Freiheit liegt in vollkommener Eigenständigkeit: in der Erkenntnis, dass das Leben wie es sich zeigt, bereits vollständig und ausreichend ist und nichts anderes benötigt wird als die Unterstützung, die der Kosmos bereits jetzt und zu allen Zeiten für uns bereithält. Diese Autonomie kann und darf die Gegenseitigkeit nicht ausschließen, die natürliche Bewegung des Lebendigen zum Lebendigen, von einem Pol zum anderen, von einem Menschen zum anderen, von eigenständigen Menschen, die sich gegenseitig wählen.
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Die Yogapraxis ersetzt negative Muster durch positive Muster. Doch auch positive Muster machen süchtig und wirken beeinträchtigend auf das natürliche Leben. Diese Muster bewirken, dass der Geist von besser und schlechter, gut oder nicht gut, getrennt oder nicht getrennt ausgeht. Sie verleugnen die extreme Intelligenz des Lebens, die im Körper immer wirkt. Das Leben funktioniert perfekt und regelt alles. Yoga bedeutet, dem Leben keine Begrenzung mehr durch den Verstand aufzuerlegen und es nicht durch weitere Muster zu behindern. Deshalb werden auch die Mittel (Etablierung positiver Muster) oder die Werkzeuge zur Warh-Nehmung schließlich aufgegeben, sodass es keinerlei mentale Beeinflussung des Lebens mehr gibt.
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Wir können positive Muster nicht willentlich aufgeben, wie eine Methode. Dies wäre nur ein weiteres Aufzwingen der Annahme, dass das Leben ein Problem ist, das gelöst werden muss. Dennoch kann zielgerichtetes Praktizieren zur Heilung erforderlich sein. Es ist uns nicht möglich Muster einfach so aufzugeben. wir können jedoch im Kontext der Erkenntnis praktizieren, dass unser Leben eine unermessliche Intelligenz ist. Muster fallen auf natürliche Weise weg, wenn sie als irrelevant empfunden oder als unnötig erkannt werden. Wir stehen im Leben als das Leben in seiner ursprünglichen, uneingeschränkten Natur, seiner unermesslichen Intelligenz, seinem Frieden und seiner Kraft, die immer besteht. Hier beginnt authentischer Yoga als Fluss der Lebensenergie. Wir entspannen uns. Die natürliche Bewegung des Lebens und seine Reaktion auf die Verbundenheit setzen sich fort, erfordern aber keinen bewussten Vorsatz, der das System nur stören würde. Der Yoga des Körpers, des Atems und der Beziehung nimmt eine natürliche, nicht zwanghafte Form an.
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Diese Veränderung von „negativen“ zu „positiven“ Mustern, hin zum uneingeschränkten Wunder des Lebens, mag wie ein fortschreitender Prozess erscheinen, ist es jedoch nicht. Der Glaube an die Notwendigkeit eines Musters (negativ oder positiv) ist eine Abhängigkeit, die den natürlichen Lebensfluss behindert. Im Allgemeinen ist es schwieriger, sich von positiven Mustern zu befreien, da sie erstrebenswert und anziehend wirken. Wir haben unsere Eisenketten gegen goldene Ketten ausgetauscht und sind nun in das Gold verliebt. Das Erkennen und Entspannen in den natürlichen Zustand kann jederzeit erfolgen und erfordert keinen fortschreitenden Prozess. Die Veränderung ist unvorhersehbar und kann nicht prophezeit werden. Sie geschieht einfach, plötzlich oder allmählich. Indem wir einschränkende Muster zutiefst verstehen und den Mut haben, auf unserem eigenen Grund zu stehen – als das Leben, wie es bereits gegeben ist –, geschehen Veränderungen auf spontane und natürliche Weise.
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Bei der körperlichen Praxis geht es im Wesentlichen um die freie Teilhabe am Atem. Mit dem Atem zu sein, bedeutet, mit dem zu sein, was uns atmet. Der Körper bleibt weich und wird umhüllt von der Atembewegung. Die Körperbewegung dient dem Atemprozess. Körperbewegung ist Atembewegung und umgekehrt. Der Geist folgt ganz natürlich der Atembewegung und wird klar, indem er sich mit dem. ganzen Körper – der Intelligenz des Lebens – verbindet. Der Geist nimmt nicht länger eine unabhängige, vom Leben losgelöste Existenz an, sondern beginnt, nur noch für die Kommunikation des Lebens zu wirken. Die Bewegung mit dem Atem mag eine gewisse Anstrengung sein, aber kein Kampf. Der Atem ist der Taktgeber für die Körperbewegung. Die Herausforderung liegt in den Grenzen der Atemkapazität, nicht in der Muskulatur. Die Übungen sind auf den Einzelnen zugeschnitten, was bedeutet, dass echtes Yoga im Rahmen der Möglichkeiten eines jeden Menschen liegt. Yoga wird an den individuellen Menschen angepasst, nicht der individuelle Mensch an Yoga. Es ist kein Versuch, dem Körper eine vom Verstand vorgegebene Struktur oder irgendeine kulturelle Vorgabe aufzuzwingen. Der Atem sollte ebenfalls nicht übermäßig kontrolliert werden, sondern in einem ausgewogenen Atemverhältnis gleichmäßig fließen. Das Ziel des Yoga ist es, den Denkorganismus zu „entkonditionieren“, nicht ihn zu konditionieren. Dies geschieht durch eine innige Verbundenheit mit Körper, Atem und Geist, als einem einzigen Prozess. Schließlich erkennt man auch dieses Ziel selbst als ein Hindernis und als unnötig an, weil der lebende Organismus bereits in seiner Intelligenz, dem natürlichen Zustand, ruht. Es muss nichts unternommen werden.
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Religiöse Werkzeuge können benutzt werden, um die innige Verbundenheit mit dem Leben auszudrücken, wenn sie frei sind von einschränkenden Glaubenssystemen oder Illusionen über ihre Notwendigkeit. Das Prinzip und das praktische Mittel zur innigen Verbundenheit mit dem Leben ist Yoga für jeden Menschen entsprechend seiner individuellen Bedürfnisse angepasst. Es ist Intimität mit allen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Gegebenheiten. Dieses uralte System stellt eine vitale Ganzkörperverbindung zum Leben her, die zu allen anderen Übungen befähigt. Yoga ist die erste spirituelle Verantwortung und das praktische Mittel, durch das die Ideale der Lehren wahr-genommen werden. Ohne die Wahr-nehmung durch Yoga bleiben die Konzepte der Lehre bloße Gedankenstrukturen, die die Intimität des Menschen mit der Wirklichkeit verhindern.
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Indem wir am Leben mit dem ganzen Körper teilhaben, wird die Tiefe von Lebensenergie und Intelligenz erfahrbar. Dabei wird die Basis des Körpers ebenso einbezogen wie alles, was darüber liegt. Der Geist übernimmt die Qualitäten des Lebens – eine Kraft, die vollkommen empfänglich ist. Der Höhepunkt dieser Fülle – der Ort tiefster, bedingungsloser Empfindung – ist das Herz, Hridaya, die Quelle von Geist und Körper. Es ist der Punkt vollkommener Vereinigung der männlichen und weiblichen Qualitäten des Lebens – der Ort vollkommenen Gebens und Empfangens in unserer körperlichen Form. Von hier ausgehend haben sich die Wirbelsäule und der gesamte physisch-energetische Körper entwickelt und von hier aus arbeiten sie jetzt.
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Der Geist und alle Erfahrungen scheinen dieser Tiefe des Gefühls im hridaya, im Herzen, zu entspringen. Es hat eine Tiefe und einen Ursprung, der nicht absichtlich oder willentlich entdeckt werden kann, sondern der natürlich gefühlt wird, wenn der ganze Körper entspannt ist und am Leben und den Beziehungen teilnimmt.
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Die Form einer wirksamen Lehrer-Schüler-Beziehung ist eine natürliche und gegenseitige Freundschaft. Alles andere vermittelt nur kulturelle Konzepte und Begrenzungen, nicht aber die Erkenntnisse des Herzens. Häufig verwenden Einzelpersonen und Institutionen charmante und sogar korrekte kulturelle Weisheitskonzepte, um damit gesellschaftliche Machtstrukturen zu schaffen. Diese binden die Beteiligten an eine ausgedachte Zweiteilung von wissend und nicht wissend, besonders und nicht besonders. Nur in einer wirklichen Freundschaft, die über die konventionellen gesellschaftlichen Strukturen hinausgeht, kann das Herz des Yoga vermittelt werden. Der Lehrer ist nicht mehr als ein Freund und nicht weniger als ein Freund.
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In aufrichtiger und tiefer Freundschaft hilft der Lehrer dem Einzelnen, seinen eigenen einzigartigen Weg und Ausdruck zu finden. Nur dem Ziel des Lehrers zu folgen, ist ein weiterer Weg, sich selbst zu verlieren. Im Rahmen der lebendigen Freundschaft, basierend auf gegenseitiger Zuneigung, besteht die Rolle des Lehrers darin, seinen Schüler in der Praxis der Teilhabe an den natürlichen Gegensätzen in Körper, Atem und intimer Beziehung zu unterstützen. Der Lehrer kann dem Schüler auch helfen, Klarheit über seine Absichten und seine Richtung im Leben zu entwickeln. Der Lehrer bietet einen unterstützenden Rahmen inmitten der positiven und manchmal auch schwierigen Veränderungen, die sich aus der Praxis ergeben. Durch Vertrauen in die Beziehung zum Lehrer und durch das Verständnis der Logik des Yoga entwickelt sich der Glaube an Yoga. Die Klarheit hängt schließlich von der eigenen klaren Absicht ab, gesund zu sein und zu praktizieren. Gegenseitige Zuneigung zwischen zwei Menschen ist die grundlegende Methodik aller Weisheitstraditionen der Menschheit. Die Intimität zwischen Lehrer und Schüler kultiviert die Intimität in allen andern Beziehungen.
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Wir alle leiden von der Geburt bis zum Tod. Güte sowohl uns selbst als auch anderen gegenüber ist daher die angemessene Reaktion. Es gibt keinen Weg, der die grundlegenden Schwierigkeiten des Lebens umgehen kann. Es gibt keine konventionelle Erfüllung, sondern nur das Liebesglück der bereits gegebenen Lebenswirklichkeit. Uns wird jedoch beigebracht dass wir glücklich sein oder zumindest Glück finden sollen. Wenn Schmerz offen zu Tage tritt, was früher oder später unweigerlich der Fall sein wird, vergrößern wir dieses Leiden zusätzlich m it dem Gefühl der Scham und einem geringen Selbstwertgefühl. Das Leiden zu akzeptieren, anstatt dagegen anzukämpfen, trägt viel zur Linderung des Schmerzes bei und motiviert uns zu einer zweckmäßigen, mitfühlenden Praxis. Das Leiden nimmt zu, bis wir es anerkennen und je früher wir das tun, desto besser. Das Anerkennen des Leidens beendet jede Täuschung und erlaubt uns, die Realität des Lebens, seinen Frieden und seine Kraft zu spüren.
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Um sich selbst wahr-zunehmen, um das Leben wahr-zunehmen, muss der Einzelne sich von den kulturell auferlegten Modellen lösen und etwas Eigenes tun. Auch die Nachahmung kultureller Ideale bleibt lediglich eine Nachahmung und geschieht, wenn überhaupt nur sehr selten. In allen Bereichen, einschließlich Beziehungen, Kunst und Yoga, hat jeder Mensch die Möglichkeit, sein eigenes einzigartiges Leben auf vollkommene Weise zum Ausdruck zu bringen. Dies ist in der Regel ein sehr einfacher und natürlicher Ausdruck, frei von Leistungsanforderungen oder irgendeiner Norm. Dieser ist auch in der dem Körper innewohnenden Verbundenheit und organischen Reaktionsfähigkeit auf alles vorhanden – in der ursprünglichen Intelligenz des Lebens. Wahrheit ist der Zustand aller Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten. So sind die tiefsten Offenbarungen durch alle Zeiten hindurch zum Ausdruck gekommen, auch in der zeitgenössischen Kultur und in der Kreativität von Menschen überall auf der Welt. Diese Ausdrucksformen verdienen ebenso viel Respekt und Aufmerksamkeit, wie die großen Offenbarungen der Vergangenheit, da sie gleichsam für unsere Zeit relevant sind. Jedes authentische (dein eigenes) Handeln ist ein bedeutender Beitrag zur Evolution der kulturellen Weisheit.
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Gesellschaftliche Rollenbilder, die von den Eltern weitergegeben werden, begrenzen häufig Nähe und Intimität. Viele Verhaltensweisen werden automatisch dupliziert. Im Yoga geht es darum diese begrenzenden Modelle zu verstehen, um die uneingeschränkte Natur des Lebens durch unsere greifbaren Verbindungen zum Leben (Körper, Atem und Beziehung) zu finden. Wir legen die gesellschaftlichen Beschränkungen ab, die über Generationen hinweg weitergegeben wurden, und ehren unsere Eltern als die grundlegende Quelle des Lebens. Den eigenen sexuellen Charakter zum Ausdruck zu bringen, drückt das Leben aus, wie es gegenwärtig gegeben ist und beendet die schmerzhaften Beschränkungen der Vergangenheit für sich selbst und für die Gesellschaft. Als Reaktion auf schmerzhafte Erfahrungen können Wut, Schmerz, Trauer, Mitgefühl und Liebe (in dieser Reihenfolge) nicht umgangen werden. Sie müssen gefühlt und anerkannt werden, auch wenn vorhersehbar ist, welche Emotion folgen wird. Mit der Praxis wird dieser Übergang durch schmerzhafte Emotionen beschleunigt und kann sogar schlagartig erfolgen. Schließlich lösen sich alle schmerzhaften Erfahrungen in Mitgefühl und Dankbarkeit für alle Menschen auf. Allen kann vergeben werden, wenn deutlich wird, welche Begrenzungen ihnen in der Vergangenheit auferlegt wurden. Mitgefühl für die Eltern, die Vorfahren und die gesamte Menschheit vermindert die gesellschaftlichen Begrenzungen, die wir alle erlitten haben. Schmerz ist eine heilende Kraft, die sowohl biochemisch als auch energetisch eine tiefgreifende Veränderung des Lebens bewirkt. Schmerz ist nicht der Feind, den es zu vermeiden gilt; er ist die schützende und nährende Kraft des Lebens, die ihre eigenen Anpassungen und Lebensveränderungen fordert. Sich auf den Schmerz einzulassen und mit ihm zu kooperieren, ist Weisheit.
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Die männlich-weibliche Wechselbeziehung, durch die sich die Kraft des Lebens ausdrückt, wird als gesellschaftliches Ideal mit Begriffen wie Liebe und ähnlichen Worten beschrieben. Traditionell werden dieser Beziehung sogar eine göttliche Stellung und sehr positive Eigenschaften zugeschrieben. Es ist nicht so, dass solche Äußerungen nicht wahr wären, aber ohne die tatsächlichen und praktischen Werkzeuge, mit denen diese Ideen als spürbare Realität empfunden werden können, bleiben sie nur abstrakte Konzepte. Es sind die Worte, die die Menschen unglücklich machen, indem sie ihnen suggerieren, dass etwas fehlt. Aber nichts fehlt im Leben und alle teilen den gleichen Zustand. Yoga ist das praktische Mittel, mit dem die Ideale der Worte und Lehre praktisch erlebbar werden.
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Jedes Ideal und jede Abstraktion, vom gesellschaftlichen Idealismus bis hin zum erhabensten religiösen Ausdruck, erzeugt aufgrund der Zweiteilung zwischen dem Ideal und der wahrgenommenen Alltagserfahrung, eine mentale Distanz zum Leben.
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Beim authentischen Yoga geht es darum, die persönlichen Mittel zu haben, um durch Körper, Atem und Beziehung tatsächlich an der Realität des Lebens teilzuhaben. Diese Mittel sind leicht zu erlernen und anzuwenden, ohne dass man sich übermäßig anstrengen muss. Es geht darum, zutiefst zu verstehen, dass der Kampf mit sich selbst und anderen, ebenso wie das Gefühl, dass etwas nicht vorhanden ist, unnötig sind. Es wird uns lediglich vom gesellschaftlichen Geist eingeimpft. Es gibt kein kompliziertes Objekt, oder ein Ich als kompliziertes Subjekt. Es muss nichts getan werden in diesem imaginären Paradigma. Es gibt nur die Realität und die reine Verbundenheit mit allen Dingen. Es gibt kein Problem. Echte Meditation beginnt, wenn die Gewohnheiten des Verstandes gesehen werden. Der Kampf wird erkannt und dadurch überflüssig. Die Fragen, die uns auferlegt wurden, lösen sich auf. Der Kampf ist vorbei und Frieden kehrt ein. Dauerhafter Frieden entsteht durch Intimität, nicht durch „Achtsamkeit“ oder das Praktizieren des Beobachters, das vom Buddhismus populär gemacht und von der modernen Psychologie übernommen wurde. Diese Praktiken bieten nur vorübergehende Erleichterung und schaffen Distanz zur Erfahrung. Die Umarmung des Lebens in all seinen Formen bedeutet Frieden und Selbst-wahr-nehmung. Yoga bedeutet, geisterfüllt und vollständig mit der Erfahrung zu verschmelzen. Eben nicht nur „achtsam“, und somit beobachtend und getrennt von der Erfahrung zu sein. Nur dann kann das Bewusstsein, das Prinzip des Gewahrseins, spontan wahr-genommen werden. Nun erkennt der Wissende sich selbst. Dieses Wissen entsteht als ein Geschenk oder siddhi der Praxis. Alles ist tatsächlich Bewusstsein. Die absolute Beschaffenheit der Realität ist in allem. Alles ist Einheit. Die Einheit ist in allem. Du.
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Liebe ist persönlich und natürlich. Sie ist eine greifbare und persönliche Wertschätzung für einen realen Menschen. Sie ist nicht das unerfüllte Verlangen, das uns die Kultur auferlegt. Die religiöse oder tantrische Aktivität, die versucht, Gott durch einen anderen zu finden, verleugnet von Natur aus den anderen und führt zu Kampf und Distanzierung. Diese Denkgewohnheiten sind gesellschaftlich tief verwurzelt und stecken in uns, auch wenn wir nicht religiös sind. Die Vorstellung von einer „höheren“ Liebe schmälert den Wert der menschlichen Liebe. Wo es echte persönliche Liebe gibt, gibt es keinen Unterschied zwischen Gott und dem Menschen. Dies ist das authentische Tantra, das Mittel des Lebens und des Yoga.
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Der Kampf mit sich selbst und den anderen endet, wenn die Polarität von männlich-weiblich, die Form und der Prozess des Lebens, als natürliche soziale Priorität begriffen wird. Es ist das gegenseitige Einverständnis, das an erster Stelle steht. Die Beziehung selbst ist unsere Priorität und unser Genuss, wovon Sexualität ein lebendiger Bestandteil ist. Der sexuelle Charakter entwickelt sich und alles andere wird nachrangig zu diesem ersten Lebensprinzip realisiert. Alles wird dann durch männlich-weibliche Intimität, Intelligenz und Kraft geprägt und geordnet einschließlich eines stabilen Familien- und Gemeinschaftslebens. Gesellschaftliche Anforderungen haben diese natürliche Priorität jedoch geschmälert und Alternativen zur Intimität werden in Form von Religion, Karriere, Konsumverhalten, Politik, Kunst usw. angeboten. Ohne das Prinzip der Intimität werden diese zu fehlgeleiteten gesellschaftlichen Kämpfen, welche die sexuelle Weisheit leugnen oder unterdrücken. Deshalb wird die männlich-weibliche Intimität zum wichtigsten Prinzip für ein gesundes Leben. Sie ist als natürliche Lebensform für jeden Menschen greifbar. Wir sind jedoch mit einer langen gesellschaftlichen Geschichte konfrontiert, in der Sexualität abgelehnt wurde. Der einzige Weg, uns von diesen Beschränkungen zu befreien, ist die regelmäßige eigene Praxis offener Körperliebe unterstützt durch echtes Hatha Yoga. Die unabhängige Kraft jedes Einzelnen entwickelt sich, wenn die Polaritäten miteinander verschmelzen. Die Freude und die Kraft des Weiblichen sowie die Fähigkeit, einen anderen Menschen zu empfangen, erblühen in Mann und Frau.
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Das sexuelle Erleben wandelt sich von Befangenheit zu tiefer Verbundenheit. Diese Transformation ist nicht weniger bedeutend, als jede andere geistige oder emotionale Transformation, von der im religiösen Kontext gesprochen wird. Sie ist spürbar und greifbar, sowohl energetisch als auch körperlich. Die auf Entlastung ausgerichtete Tätigkeit des Spannungsabbaus verwandelt sich in ein entspanntes Absorbieren der Wechselseitigkeit des Lebens. Die regenerative Kraft des Lebens, die Kraft der männlichen und weiblichen Polarität im Inneren und Äußeren, ist aktiv. Sie ist die Kraft hinter allen Handlungen, einschließlich der angemessenen Fortpflanzung und der Betreuung der Kinder. Die Intimität der Erwachsenen wird dann zur Grundlage des gesellschaftlichen Lebens und zu einem klaren gesellschaftlichen Modell, das an die Kinder weitergegeben wird.
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Der geistige und gesellschaftliche Elitegedanke hat in unserer Zeit nachgelassen. Wir feiern und schätzen das Gewöhnliche als außergewöhnlich, das nicht zu unterscheiden vom Höchsten ist. Die spirituelle Weitergabe erfolgt nicht mehr durch eine exklusive Instanz, sondern durch gewöhnliche und gleichberechtigte Individuen. Zwischen Mann und Frau in den Momenten, wenn der Himmel sich auf die Erde ergießt und eine neue Form entsteht. Die Vereinigung von Himmel und Erde ist im natürlichen Zustand erlebbar. Wenn man sich allen gewöhnlichen Gegebenheiten hingibt bzw. sie annimmt, offenbart sich das Unendliche. Dies ist nicht voneinander verschieden.
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Schlussfolgerung: Wenn Gott, die absolute Bedingung des Seins, die Quelle unseres Lebens ist, dann ist das entweder wahr oder nicht. Wir können diese Gegebenheit nicht in einen Prozess der Suche verwandeln. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Sonne die Quelle unseres Sonnensystems ist, uns dazu veranlasst, nach der Sonne zu suchen. Die Sonne ist eine stillschweigende Präsenz in unserem Leben, die wir genießen. Der willentliche Versuch sich hinzugeben oder der Glaube an ein tordefiniertes soziales Konzept, dass Gott als „den Anderen“ definiert, hält den Geist nur beschäftigt und gestresst. Hingabe, in den Traditionen als Isvarapranidhana bekannt und Glaube, bekannt als sraddha, sind das Aufgeben spiritueller Ideen. Es ist einfach klar, dass das Wunder des Lebens und seine Quelle unser natürlicher Zustand ist, der bereits vollständig in uns als wir selbst angelegt ist. Dies ist vollkommener Glaube und Hingabe an das Leben, was auch immer das Leben insgesamt in seiner extremen Intelligenz und unermesslichen Verwobenheit, ist. Wahrhaftiges Yoga entsteht dann ganz natürlich, als die Bewegung des Lebens in Körper, Atem und Beziehung und nicht als eine Manipulation des Lebens oder eine Qualifizierung des lebenden Organismus mit Konzepten und Anstrengung in Geist und Körper. Du bist die Kraft des Universums, die als reine Intelligenz, Schönheit und Funktionalität erscheint. Es gibt nur die Realität. Nichts anderes. Yoga entstand in der großen Kultur der Upanishaden zu einer Zeit, bevor sich das Konzept der heiligen Persönlichkeit oder des alleinigen Gottes in der Geschichte entwickelt hatte. Es war eine Weisheitskultur, die einfach anerkannte, dass alles Brahman oder Gott ist. Sonne, Mond, Mann, Frau, Atem, Sinne, Nahrung: alles ist Gott. Es gab diese Vorstellung von Gott als eine besondere Person nicht, denn diese impliziert, dass alles andere nicht Gott ist. Diese Zweiteilung entstand, als die Idee der göttlichen Person, als Doktrin verpackt, verbreitet und dem gesellschaftlichen Denken und verhalten aufgezwungen wurde. Dies ist die Ursache des menschlichen Elends: Wir versuchen, etwas zu sein, was wir nicht sind, anstatt das Wunder und die Kraft des Lebens zu genießen, wie es uns bereits in Fülle gegeben ist.
Den englischen Originaltext kannst du hier lesen: Hridaya Yoga Sutra
Das Hridaya Yoga Sutra von Mark Whitwell ist auch als illustrierte, gebundene Ausgabe im A5-Format erhältlich. Bei Interesse schreib gerne an: kathrin@heartofyoga.blog