von Mark Whitwell
Unser Lehrer Krishnamacharya beschrieb die verschiedenen Yoga-Pfade als Teil eines ganzheitlichen und integrierten Gesamtsystems, das an die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen angepasst werden sollte. Er betonte, dass es ein Irrtum des westlichen Denkens sei, die Yoga-Pfade getrennt voneinander zu betrachten, als könnten sie isoliert existieren. Er erklärte es so: „Es gibt kein Jnana Yoga (Erkenntnis) ohne Bhakti Yoga (Liebe und Hingabe), und kein Bhakti Yoga ohne Hatha Yoga (Ganzkörper-Intimität mit dem Leben).”
Aus Hatha Yoga entspringen die natürlichen Formen wie Karma Yoga, Kriya Yoga und Siddha Yoga. Sie werden auf eine natürliche und mühelose Weise praktiziert, individuell angepasst für jeden Einzelnen. Es ist die Aufgabe des Lehrers, dem Schüler zu helfen, je nach Alter, Gesundheit, Lebensstil und kulturellem Hintergrund herauszufinden, was für ihn oder sie am besten geeignet ist.
Es ist wichtig zu betonen, dass Krishnamacharya gelehrt hat, dass Hatha-Yoga das Hauptmittel von Bhakti ist und der praktische Weg, um das Ziel von Bhakti – Jnana – zu erreichen. Er lehrte Asana – Hatha Yoga – als die nicht-duale Praxis der direkten Intimität mit dem Leben und betrachtete dies als die erste Verantwortung eines spirituellen Lebens, als Sadhana (das, was getan werden KANN, um die Ideale des Glaubens zu verwirklichen). Es ist das Gebet des ganzen Körpers an das Leben, aus dem alle Siddhis (Kräfte des Lebens) spontan hervorgehen. So wie man sich nicht durch Anstrengung bewusst in den Schlaf versetzen kann – denn das verhindert nur den Schlaf -, so können auch die höheren Ideale des Yoga nicht ohne die praktischen Mittel des Hatha Yoga erreicht werden. Das wäre vergleichbar mit dem Versuch einzuschlafen, ohne vorher das Licht auszuschalten und sich hinzulegen.
Hatha Yoga bedeutet Intimität mit allen gewöhnlichen Gegebenheiten, die uns spontan die Quelle aller Gegebenheiten offenbart und fühlen lässt. Egal in welchem Glaubenssystem die schönen Ideale von „Ursprung“, „Gott“ oder „absolute Realität“ ausgedrückt werden, Hatha Yoga ist das universelle Mittel für sie alle. Sobald man versteht, dass die Asana-Praxis eine Handlung von Bhakti ist, also Meditation in Aktion, dann gibt dies viel Hoffnung, Mut und Standhaftigkeit inmitten der Schwierigkeiten des Lebens. Insbesondere, weil es greifbar ist, etwas, das wirklich erreicht werden kann.
Tägliches Üben führt schnell zu greifbaren Ergebnissen. Durch die Praxis beginnen die Übenden, das „Eine Leben“, die Quelle aller Dinge, zu spüren. Wenn das Herz durch den Verlust eines geliebten Menschen gebrochen wurde, wird es durch diese spürbare Liebesverbindung zum Leben selbst wieder geheilt. Es verbindet sich mit dem, was das Herz schlagen lässt, den Atem fließen lässt und alle Dinge in Bewegung hält. Man ist nicht länger ausschließlich auf den Ausdruck der Liebe durch eine bestimmte Person angewiesen. Irgendwie wird der Kummer im großen Bild des Entstehens und Vergehens – im Leben und im Sterben – überschaubar und verständlich.
In den großen Traditionen menschlicher Weisheit ist und war die universelle Methode in diesem Kontext die gegenseitige Zuneigung zwischen zwei echten Menschen – die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Dies ist keine Beziehung, in der der eine Autorität über den anderen hat, und auch keine Eltern-Kind-Beziehung. Es ist eine Beziehung der absoluten Wechselseitigkeit. Der Lehrer ist nicht mehr als ein Freund und nicht weniger als ein Freund. Im Rahmen dieser Freundschaft entsteht echtes bhakti zwischen Lehrer und Schüler. Diese Hingabe ist nicht das Ergebnis von künstlich erzeugten Gefühlen gegenüber einer Autoritätsperson – es ist nicht der Versuch, etwas zu erreichen oder etwas zu bekommen, was die meiste Zeit über nicht vorhanden zu sein scheint. Der Lehrer hat kein anderes Interesse, als den Schüler zu befähigen, ihm die Mittel an die Hand zu geben, die es ihm ermöglichen, in seiner eigenen Kraft zu sein. Wenn dies geschieht, entsteht wahre Hingabe, eine sehr reale, lebenslange Dankbarkeit zwischen zwei Menschen, die offensichtlich auf demselben Boden stehen, die gleiche Realität teilen.
Selbst in den hochentwickelten Dharmas des Buddhismus und des Vedanta ist diese sehr infache Methode – die gegenseitige Liebe zwischen zwei echten Menschen – die wesentliche Methode des Dharmas. Sie ist nicht mehr oder weniger als die echte Zuneigung zwischen Freunden und Liebenden im echten Leben, die wirklich füreinander da sind und sich ich in der dynamischen Energie des gegenseitigen Gebens und Empfangens füreinander interessieren. Das ist es, was eine tägliche Asana-Praxis im Hatha-Yoga – beim Ein- und Ausatmen als empfängliche Stärke – einem Menschen ermöglicht, in seinem täglichen Leben zu spüren. Es ist das Mittel, das die Siddhis (Gaben oder Kräfte) der Beziehung und Hingabe verleiht, sei es gegenüber dem eigenen Lehrer oder in der tiefen Fülle von Liebe und Freundschaft im Alltag.
Wenn ich von „unserem“ Lehrer spreche und mich auf Krishnamacharya beziehe, meine ich damit, dass Kirshnamacharya im Grunde genommen der Ursprungslehrer für alle ist, die sich mit dem modernen Yoga beschäftigen. Er wird oft als „Lehrer der Lehrer“ bezeichnet. Er ist der Lehrer von B. K. S. Iyengar und somit von allen Stilen, die von Iyengar abgeleitet sind. Ebenso ist er der Lehrer von K. Patabhi Jois, dem Begründer von Ashtanga Vinyasa. Krishnamacharyas Prinzipien gehören also eigentlich in all diese populär gewordenen Systeme hinein. Seine Prinzipien machen die Yogapraxis, die du kennst und liebst, zu deiner ganz eigenen, effizienten, kraftvollen und sicheren Yogapraxis.
Abschließend noch ein Zitat von Krishnamacharya:
„Weil alles Ishvara ist, ist die Hingabe an jedes Objekt die Hingabe an Ishvara.“ Das bedeutet, weil alles Gott ist, ist die Hingabe an alles eine Hingabe an Gott: Ob an einen Stein, einen Fluss, den Ozean, das Tierreich, das Pflanzenreich, den Mond, die Sonne, die Mutter, den Vater, den Ehepartner, den Lehrer, den Freund, die Dielen oder den eigenen Atem!
Den englischen Originaltext kannst du hier lesen: What Kind of Yogi Am I? Jnana, Bhakti, Hatha, Karma and Kriya Explained