Kostbare Erinnerungen an
T. K. V. Desikachar

von Mark Whitwell

Im Jahr 1973 nahm ich zum ersten Mal an Desikachars Unterrichtsstunde in Madras (heute Chennai) teil. Ich hatte bereits am Zirkus des spirituellen Indiens teilgenommen, und Desikachar schien zunächst nur eine weitere Station zu sein. Doch von dem Moment an, als ich ihn traf, wusste ich, dass ich Gold gefunden hatte. Als ich ankam, saß sein Vater, Tirumalai Krishnamacharya, in einem Korbsessel auf der vorderen Veranda und las die Zeitung, gekleidet in traditionelle brahmanische Dhoti und Schal. Er hob kurz den Blick und begrüßte mich mit einem kurzen Lächeln und lebhaften Augen.

Desikachar unterrichtete mich im Einzelunterricht in einem privaten Raum, während sein Vater im Zimmer nebenan saß. Zunächst beobachtete er alles, was ich tat. Er sagte: „Zeig mir, was du tust“, und beobachtete dann still und ohne Kommentar.

Stolz demonstrierte ich mein Nauli, die Wellenbewegung meines Magens, meiner Blase und meiner inneren Organe, das ich als Lösung für meine monatelange Blasenschwäche und den häufigen Gang zur Toilette gelernt hatte.  Doch Desikachar bat mich höflich, mit Nauli aufzuhören.

Als ich ihm von meinem Blasenproblem erzählte, erklärte er mir sanft, dass genau diese Übung die Ursache für meine Beschwerden war. Diese Geschichte eines jungen Mannes, der glaubte, ein Problem durch Yoga zu lösen, aber es stattdessen selbst verursachte, hat Desikachar später in sein Buch „Religiousness in Yoga“ aufgenommen. Anschließend zeigte er mir eine grundlegende Praxis, wie man den ganzen Körper zusammen mit dem Atem bewegt. Während der Anleitung und in den darauf folgenden Stunden ging er wiederholt in den Neben-Raum, um mit seinem Vater über meine Yoga-Probleme zu sprechen. Er lernte während er unterrichtete.

Danach begleitete mich Desikachar zum Tor, in inniger Freundschaft, obwohl wir uns nur einmal getroffen hatten, und sagte mit ruhiger, strenger Stimme: „Übe das, was ich dir die Woche über gezeigt habe, und wenn du es tust, komm wieder – aber wenn du nicht übst, komm nicht wieder, denn dann kann ich dir nicht helfen.“

Ich blieb anderthalb Jahre in Madras / Chennai, bevor ich nach Neuseeland zurückkehrte, danach kam ich immer wieder.

Während dieser Zeit sah ich Desikachar und seinen Vater drei Mal pro Woche und besuchte auch Krishnamacharyas Vorlesungen, die Desikachar übersetzte. Desikachar legte Wert darauf, dass ich meine eigenen Fragen hatte und meine Interessenrichtung selbst bestimmte. Er sagte immer: „Gibt es etwas, das dich interessiert, oder sollen wir plaudern oder an den Strand gehen?“

Desikachar in Neuseeland

Im Jahr 1995 brachte ich Desikachar nach Neuseeland. Wir versammelten uns im North Shore Marae in Auckland – dem Versammlungshaus der indigenen Māori Neuseelands. Einige ältere Māori-Frauen fragten Desikachar, ob er Yoga für den Fall habe, „dass wir auf den Boden fallen und nicht mehr aufstehen können.“ Desikachar ging sofort zu ihnen und zeigte ihnen einige Bewegungsabläufe auf dem Boden. Er vermittelte ihnen, wie sie die Körperbewegung mit der Atembewegung vereinen können. Seine Wertschätzung für sie war in seiner Haltung und seiner Anleitung spürbar. Er schlug vor, dass sie diese mit dem Atem synchronisierten Bewegungsabläufe jeden Tag machen sollten. Es war ein freudiges und belebendes Zusammentreffen. Die Atmosphäre war lichtdurchflutet und erfüllt von Liebe, Freundschaft und kulturellem Respekt. Einige Tage später wurde Desikachar von Radio Neuseeland für ein Interview zu seinem Buch „The Heart of Yoga“ eingeladen.

Desikachar hatte eine bemerkenswerte Qualität, die ich in all meinen Jahren des Reisens noch nie zuvor bei jemandem erlebt hatte: seine Fähigkeit, jeden einzelnen Menschen, den er traf, wirklich zu respektieren. Er ehrte ihre einzigartigen Unterschiede. Er ehrte sie einfach dafür, dass sie lebendig waren. Selbst in großen Gruppen konnten die Menschen spüren, wie sehr er sich um sie bemühte. Er hat nie darauf bestanden, als „besondere“ Person behandelt zu werden. Ich erinnere mich daran, wie er unbeirrt am Prinzip festgehalten hat, dass der Lehrer nicht mehr ist als ein Freund, aber auch nicht weniger.

Desikachar hat immer gewöhnliche Kleidung getragen, er nannte es “neutrale Kleidung”. In meiner Zeit mit ihm habe ich festgestellt, dass er eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Gewöhnlichkeit hatte. Er war einfach und unkompliziert und  es gab nichts,  wonach er verlangte.

Desikachar-Gedenkfeier im Jahr 2018

Eine Gruppe  aus den USA und Europa traf sich zu einem großen Treffen mit Freunden und Schüler:innen. Es war eine freudige Gelegenheit zum Erinnern, Geschichten erzählen und Lehren. Die Schüler:innen aus aller Welt waren beeindruckt davon, dass die Prinzipien von  Desikachars Vaters – T. Krishnamacharya – allen verschiedenen Lehrern:innen gemeinsam waren, jedoch auf völlig einzigartige Weise durch ihre eigene Persönlichkeit, ihren Ansatz und ihre Kultur zum Ausdruck kamen.

Ob es nun Sriram war, Desikachars Freund und Schüler aus Chennai (jetzt Deutschland), der den Veda mit tadellosem Können und klanglicher Genauigkeit sang; sein Freund und Schüler Leslie Kaminoff, der sein Wissen über westliche Anatomie in die Atemprinzipien der Asanas einbrachte; oder das Fachwissen von Mirka Krafstow, die sich auf Beziehungen und emotionales Wohlbefinden für alle spezialisiert hat. Ich weiß, dass Desikachar stolz darauf wäre, die Zusammenarbeit und Gemeinschaft in einer so vielfältigen Gruppe zu sehen, und zu wissen, dass die Tradition von so vielen guten Menschen auf der ganzen Welt hochgehalten wird.

Wir sind T.K.V. Desikachar weiterhin von ganzem Herzen dankbar für sein Leben und sein Licht. Danke, Desikachar, danke für alles, was du für uns und die ganze Menschheit getan hast und weiterhin tust.  Ich habe dich unermüdlich für uns alle arbeiten sehen. Ich erinnere mich an  dein Herz, wie es aus deinem scharfen Verstand und deinen funkelnden Augen strahlte.

Die Schüler/innen von Desikachar bei der Gedenkfeier 2018 im Kripalu.
Die Schüler/innen von Desikachar bei der Gedenkfeier 2018 im Kripalu.

Den englischen Originaltext kannst du hier lesen: Precious Memories of Desikachar in India and New Zealand