Im Januar 2021 führten Rosalind Atkinson und Mark Whitwell unter Bezugnahme auf Paramahansa Yoganandas „Autobiographie eines Yogi“ ein Gespräch über Polarität und deren Bedeutung in unserem Leben.
Rosalind Atkinson: In der Autobiographie eines Yogi beschreibt Yogananda, wie:
“… die vedischen Schriften erklären, dass das physische Weltall einem grundlegenden Gesetz – Maya, auch Dualitäts- und Relativitätsprinzip genannt – unterworfen ist. Gott, das Einzige Leben, ist absolute Einheit. Um aber als verschiedenartige und voneinander getrennte Formen der Schöpfung in Erscheinung treten zu können, muss Er sich mit einem unwirklichen oder trügerischen Schleier umgeben. Dieser illusorische, dualistische Schleier ist Maya. […] dass die ganze Natur unter dem unabänderlichen Gesetz der Dualität steht. […] Die Dualität der Schöpfung zu überwinden und seine Einheit mit Gott zu erkennen, galt als höchstes Ziel des Menschen.”
Mark, könnten wir darüber sprechen, wie du Polarität siehst? Du erwähnst diesen Begriff häufig. Wie unterscheidet sich deine Sichtweise von dem, was Yogananda dazu gesagt hat?
Mark Whitwell: Als erstes möchte ich sagen, dass das Wort Maya normalerweise mit Illusion übersetzt wird, und im Vedanta wird es in der Regel als eine Schöpfung des Göttlichen beschrieben. Aber dieses Bezugssystem und Yoganandas Ausdruck „er trägt“ impliziert, dass der Schleier etwas Reales ist, während er in Wirklichkeit eine illusorische Erfindung des Geistes ist und keinerlei Substanz hat. Der Schleier ist zu sehen als eine Reflexion des Göttlichen, eine nicht-bindende Reflexion, die nur im Geist des Menschen wahrgenommen wird. Yogananada deutet an, dass der Schleier irgendwie von Gott erschaffen ist. Ihm wird eine Art von Realität verliehen.
In der Polarität gibt es überhaupt keine Trennung der Pole. Das ist ein Fehler in den herkömmlichen Vorstellungen des Tantra – dass es eine Art fortschreitende Verschmelzung gibt. Es gibt kein links ohne rechts, kein männlich ohne weiblich.
Rosalind Atkinson: In Yoganandas obigen Worten scheint die Polarität einen negativen Beigeschmack zu haben, als wäre sie etwas wie die Versklavung an die Sinne bzw. die phänomenale Welt. Als wäre Polarität etwas, das ein Leben in der Einheit behindert oder von ihr getrennt ist. Ähnlich wie die vedische Tradition zu einem Leben abseits von Sexualität und dem, was man weltlich nennen könnte, ermutigte. Gibt es eine andere Möglichkeit, das, was er hier sagt, zu beschreiben?
Mark: Die vedische Sichtweise besagt, dass man den Schleier durchdringen und die Quelle hinter dem Sichtbaren entdecken muss, dass es ein Innen und ein Außen gibt. Sie schafft die Annahme, dass die materielle Welt, Beziehungen und Sexualität etwas Totes sind, das umgangen oder überwunden werden muss, anstatt alles als nicht-gebundene Formen des Göttlichen zu betrachten und ihnen positiv zu begegnen, indem man sie als göttlich anerkennt.
Das normale Leben entstand durch die Dualität von Materie und Geist. Der größte Teil der Welt hat sich für das Materielle entschieden (oder ist darin aufgewachsen) und kennt nichts anderes. Bestenfalls sind sie in ein fortschreitendes Spiel oder einen Kampf oder eine Verschmelzung der Gegensätze verwickelt, insbesondere von männlich und weiblich. Und die Religion rät seit Tausenden von Jahren, dieses Unterfangen fallen zu lassen. Hat das funktioniert? Nein. Tatsache ist, dass es keine voneinander getrennten inneren und äußeren Gegebenheiten gibt, sondern nur die Wirklichkeit selbst. Der Ursprung und das Sichtbare sind eine Realität. Die sogenannten äußeren Gegebenheiten sind mit absoluter Positivität als nicht-bindende Spiegelung der Wirklichkeit zu betrachten.
Rosalind Atkinson: Was verstehst du unter Polarität und Dualität, wenn du diese Begriffe verwendest?
Mark: Dualität ist die Vorstellung, dass zwei Dinge voneinander getrennt sind. Sie ist eine Annahme.
Wie männlich und weiblich. Oder wie links und rechts. Das ist eine Illusion. Sogar die Idee, dass es zwei gibt und sie durch eine Art von progressivem Spiel oder Verschmelzung oder Kampf zusammenkommen. Selbst die romantischste Vorstellung von Vereinigung ist eine Illusion der Dualität, wenn sie von einer Position ausgeht, in der zwei Dinge getrennt sind. Die Polarität definiert zwei, aber die beiden in der Polarität sind nicht getrennt, sie sind eins. Das eine hängt in seiner Existenz vom anderen ab. Männlich und weiblich. Links und rechts. Sonne und Mond. Deshalb erkannten einige im Vedanta, dass es erforderlich ist, sich an den Tantras zu beteiligen, die die Einheit von beiden forderte. Das verfeinerte die Vorstellung des Vedanta und diesem irgendwie göttlich verursachten Schleier.
" ES GIBT KEINEN GURU UND KEINEN SCHÜLER; ES GIBT KEINEN GOTT UND KEINEN GLÄUBIGEN. ES GIBT KEINE GEGENSÄTZE - SIE SIND EINE POLARE DUALITÄT; NICHT ZWEI GETRENNTE TEILE, SONDERN ZWEIL TEILE DESSELBEN EINEN." - Nisargadatta Maharaj
Rosalind: Das herkömmliche Verständnis von „sexueller Vereinigung“ und die Art und Weise, wie wir das Wort „Vereinigung“ verwenden, ist zum Beispiel, dass zwei getrennte Menschen zusammenkommen und (im Idealfall) eine Erfahrung des Einsseins machen, die dann wieder aufhört. Und sie empfinden in irgendeinem Maße Groll oder Sehnsucht füreinander als Torwächter dieser geschätzten begrenzten Erfahrung der Einheit. Und diese Vorstellung von zwei Dingen, die sich vereinigen, scheint die Grundlage vieler tantrischer Ideen zu sein. Aber du sagst, dass sie bereits in Einheit sind. Vielleicht passiert also bei manchen Menschen in Sexualität etwas, bei dem die Illusion des Getrenntseins vorübergehend fällt – aber sie waren die ganze Zeit schon in der Einheit. Und das zu erkennen, würde dem Sex die Verzweiflung und die Ausbeutung nehmen. Habe ich das richtig verstanden?
Mark: Ja, dieses Kommen und Gehen, leer und voll, wieder leer, wird als Illusion erkannt. Diese Erkenntnis beseitigt den Drang, aus einem Gefühl der Leere heraus Vereinigung zu erlangen, Teilhabe nur an der Fülle.
Rosalind: Um noch einmal auf Yogananda zurückzukommen, es scheint, dass diese Philosophie zwar sehr verführerisch ist, aber in ihren Auswirkungen subtil respektlos und sogar schädlich für die Natur sein kann. Da ich aus einer Kultur des Materialismus komme, ist es verlockend, diese schönen Worte zu hören, die die Quelle anerkennen, die Göttlichkeit anerkennen, Gott als etwas anderes anerkennen als das Konzept eines urteilenden, bärtigen Patriarchen. Ich spüre, wie leicht es ist, aus der materialistischen Kultur in eine „Yoga“-Kultur zu gelangen, die die Quelle verherrlicht und das Sichtbare subtil verunglimpft, indem sie die üblichen Werte einfach umkehrt, aber die imaginäre Spaltung fortsetzt. Zum Beispiel schreibt Yogananda nach der Zeile über „die Dualität der Schöpfung zu überwinden“, dass „Nur wer das Universum auf diese Weise entschleiert hat, ist ein wahrer Monotheist. Alle anderen sind Götzenanbeter. Solange der Mensch noch den dualistischen Täuschungen der Natur unterliegt, ist die doppelköpfige Maya seine Göttin, und der eine wahre Gott bleibt ihm verborgen.“ Das klingt für mich ziemlich nach patriarchalischer Religion. Ist das ungerecht?
Mark: Nun, man muss verstehen, dass Yogananda in einer Kultur auftrat, der vedischen Kultur, die sich seit dem 14. Jahrhundert fast vollständig von den Tantras entfernt hatte – die etwa seit dem 4. Jahrhundert existieren. Er gehörte einer rein männlichen Linie an, die das Zölibat verherrlichte und das Weibliche leugnete. Es war nicht nur ein Zufall, dass das Zölibat empfohlen wurde, die Philosophie, dem Weiblichen zu entkommen, ist logischerweise in das gesamte Denken und Handeln eingewoben. Das ganze Buch ist eine Verleugnung des Weiblichen.
Und wir können die schrecklichen Auswirkungen des religiösen Projekts, „das Universum zu entschleiern“, auf die Welt sehen – das ist übrigens eine äußerst gruselige Sprache. Das Universum ist wunderschön gekleidet. Lasst es in Ruhe.
RA: Was sind also die Implikationen für die Art und Weise, wie wir die Samkhya-Theorie verstehen können oder wie wir sie verstehen wollen (ob traditionsgetreu oder nicht)? Ist der tantrische Glaube an die Einheit von Geist und Materie wirklich notwendigerweise so verschieden von der dualistischen Philosophie von Patañjali in den Yoga Sutras? Denn ich persönlich fühlte mich von dem Bezugssystem von purusha und prakriti als ewiges göttliches (männliches) versus delusorisches, wandelbares (weibliches) Wesen und all den frauenfeindlichen Sterotypen des verführerischen, unzuverlässigen, unkontrollierbaren, geringeren weiblichen Wesens, das erobert und kontrolliert werden muss, nicht angesprochen bzw. sogar abgestoßen. Wie sehr dies auch durch den späteren tantrischen Einfluss abgemildert wird. Yoganandas Worte selbst sind ein Beweis für das Fortbestehen dieses Bezugssystems in der vedischen Kultur. Die, seien wir ehrlich, eine frauenfeindliche Kultur ist. Der „Schleier“ ist ironischerweise ein sehr aufschlussreiches Wort – ein Kleidungsstück, das den Frauen aufgezwungen wurde, um angeblich ihre Schönheit zu verdecken und sie davon abzuhalten, den Mann von seinem religiösen Projekt abzulenken.
MW: Nun, in meiner Sprache SIND der Ursprung und das Sichtbare eine Realität – Samkhya darshana [das philosophische System von Samkhya] trennt künstlich das Bewusstsein von der Erscheinung des Bewusstseins, prakriti, und stellt es als höher dar. Und das ist eine Annahme, die die sichtbare Realität negiert und vulgarisiert. Aber das hindert uns nicht daran, das Yoga Sutra zu lesen.
In Krishnamacharyas Darstellung des Yoga Sutra wird der Text durch die lebendige Beziehung zwischen Lehrer und Schüler zum Leben erweckt.
Es ist anders als in der westlichen Tradition, wo der Text eine feste Autorität darstellt, und wir herausfinden müssen uns darauf einigen müssen, was er “wirklich” bedeutet. Der Text ist ein Werkzeug innerhalb der Lehrbeziehung des Yoga, das aus den Tantras stammt und durch und durch tantrisch ist. Krishnamacharya hat es nie direkt „Tantra“ genannt, weil Tantra zu seiner Zeit einen schlechten Ruf hatte, ähnlich wie die Hexerei im Westen. Aber was er lehrte, war definitiv tantrisch.
Er unterrichtete eine Art von Yoga, genannt tantrisches Hathayoga, das aus den Wurzeln des mittelalterlichen tantrischen Indiens entstand, dieses wiederum entwickelte sich aus der Kultur von Patanjali und den Upanishaden, die vorher existierten. Dies ist die Linse, durch die er das Yoga Sutra interpretierte. Krishnamacharya betonte, dass Texte ohne eine lebendige Lehrer-Schüler-Beziehung tot seien. Für ihn waren sie wie Handbücher zum Studium, aber erst die Beziehung hauchte ihnen Leben – Shakti – ein. Er betrachtete sie dann als nützliche Dokumente.
RA: Ich denke, wenn prakriti vulgarisiert wird, wollen wir das zurückweisen, weil es anstößig erscheint, das „Weibliche“ mit etwas Negativem oder Minderwertigem zu assoziieren, etwas, das erobert werden muss – wir fühlen uns schließlich zu einer Idee der Einheit hingezogen, die solche Unterteilungen gänzlich ablehnt. Aber in der Yogaphilosophie und den Tantras ist diese Idee der Polarität grundlegend, und es scheint, dass sie keine negativen gesellschaftlichen Implikationen oder Hierarchien haben MUSS. Als ob wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten müssten. Glaubst du, dass sich deshalb viele zu „nicht-binären“ Formen hingezogen fühlen, weil die traditionellen Polaritäten durch gesellschaftliche Annahmen so entwertet und in künstliche Hierarchien gezwungen wurden? Glaubst du, dass auch Yoga auf Philosophien der Polarität verzichten sollte? Aber sobald ich das sage, denke ich, es ist keine Philosophie, es ist etwas Tieferes.
MW: Die tatsächlichen Polaritäten wurden in begriffliche Dualitäten umgewandelt und dann im gesellschaftlichen Denken verankert. Und die einfache Antwort ist, zu verstehen, dass das eine dem anderen niemals übergeordnet sein kann. Prakriti kann niemals schlechter sein als purusha. Tatsächlich bedeutet prakriti zu kennen, purusha zu kennen und umgekehrt. Eine Blume zu kennen bedeutet, die Quelle der Blume zu kennen. Wer die Quelle kennt, kennt auch die Blume. Es entsteht keine Abgrenzung. Es wird kein Suchen verursacht.
So sind wir frei, uns auf die Tantras der vollkommenen Vereinigung der Gegensätze einzulassen, die geschehen ist, die geschehen wird. Wer dieses Tantra leugnet, leugnet Gott. Und Gott zu leugnen, heißt, das Tantra zu leugnen. Die beiden sind eins.
RA: Um das klarzustellen, wenn du über Polaritäten sprichst, ist das nicht nur eine Metapher für etwas – vielmehr beziehst du dich wie Yogananda auf etwas sehr Reales, ein Prinzip des Lebensgefüges, trotz der schädlichen gesellschaftlichen Annahmen, die sie angesammelt haben.
MW: Ja. Nicht weniger als die Substanz der Existenz. Die Kräfte, die neues Leben schaffen, die nährende Kraft des Lebens, die Mutterschaft und Vaterschaft schafft, und die Intelligenz, die Schönheit und die intrinsische Harmonie eines neuen Lebens.
RA: Doch im Gegensatz zu Yogananda sagst du, dass diese Realität die Einheit nicht in irgendeiner Art verschleiern muss, dass sie nicht durchdrungen oder kontrolliert oder transzendiert werden muss.
MW: Ja.
RA: Ich habe gehört, dass es als eine anthropozentrische Projektion der menschlichen Kultur auf die Realität beschrieben wird, wenn man von männlichen und weiblichen Prinzipien spricht. Was meinst du dazu?
MW: Männlich-weiblich ist eine Projektion der Realität auf die Menschheit, nicht andersherum. Ich kann keinen Unterschied zwischen meinem männlich-weiblich und deinem männlich-weiblich erkennen. Nur weil wir die Begriffe mit gesellschaftlichen Geschlechtervorstellungen und festgefahrenen Erwartungshaltungen vergiftet haben, heißt das nicht, dass wir die heiligen Worte ganz und gar verwerfen sollten. Genau wie die Worte Gott, Sex, Yoga und Guru können wir auch weiterhin wichtige Worte in ihrer reinen und schönen Bedeutung verwenden und nicht zulassen, dass Vergiftungen unsere eigentliche Sprache negieren.
In einer korrupten Kultur ist jede Sprache korrumpiert. Deshalb geschieht wirkliche Lehre in der Beziehung. Die Aufrichtigkeit der Beziehung hält Freunde lange genug zusammen, um zu untersuchen, was tatsächlich angedeutet wird, anstatt einfach die negativste Schlussfolgerung zu ziehen. In Freundschaft oder Wohlwollen besteht die Möglichkeit, genauer zu betrachten, was gemeint ist.
RA: Ich erlebe oft, dass Menschen das Wort „Dualität“ verwenden, um sich auf gesellschaftliche Konzepte von richtig und falsch zu beziehen, die mir nicht als tatsächliche Gegensätze erscheinen, sondern nur als Dinge, die im gesellschaftlichen Bewusstsein in Opposition gesetzt werden. Wenn zum Beispiel jemand etwas Gemeines tut, könnte die defensive Reaktion lauten: „In allen ist Dualität vorhanden“. Oder etwas wird mit Hilfe des Urteilsvermögens einer Person verurteilt, und dieser berechtigte Einwand wird dann als „dualistisch“ abgetan. Glaubst du, dass richtig und falsch oder gut und schlecht tatsächlich Gegensätze sind?
MW: Nein. Die Erscheinung von irgendetwas ist nur die Modifikation der Realität. Alles, was es gibt, ist die Wirklichkeit, und innerhalb der Erscheinung gibt es die positive Beteiligung an den Polaritäten, so funktioniert das Leben. Dazu gehören nicht richtig und falsch, gut und schlecht, denn das sind nur gesellschaftliche Konzepte. In der positiven Teilhabe an den Polaritäten der ursprünglichen Vereinigung gibt es eine natürliche Ordnung und einen Sinn für richtiges Handeln. Richtig und falsch sind von Kirche und Staat als Apparate zur Kontrolle der Bevölkerung geschaffen worden.
RA: Irgendwelche abschließenden Gedanken?
MW: Das Leben ist eine Einheit. Es ist, was es ist. Es gibt kein dualistisches „Anderes“, das es zu überwinden gilt. Alle Erscheinungen sind in dieser Einheit. In der Polarität gibt es keine Trennung. Dein Yoga ist ausschließlich dein Teilhaben an dieser Einheit. Es gibt keinen Prozess, nichts Graduelles, kein Zusammenführen von zwei Gegensätzen. Das Teilhaben an der Vereinigung der Gegensätze offenbart die Quelle aller Gegensätze, das Hridaya (Herz).
Den englischen Originaltext kannst du hier lesen: Polarity, Duality and Unity in Yoga